Freitag, 24. Februar 2012

John Boyne, Das späte Geständnis des Tristan Sadler

- (...) und ich tue es ihm nach, schließe die Augen und lasse den Regen auf mein Gesicht fallen. Der Regen wäscht die Scheiße weg, und ich weiß, ich habe nur ein paar Sekunde, ihn zu genießen, bis Wells wieder schreit, ich soll meinen Eimer füllen und den Graben trockenlegen, diesen verdammten, verfluchten Graben, bevor wir alle hier in dieser verdreckten, verwünschten französischen Erde begraben werden. -

Inhalt
Die allgemeine Kriegsbegeisterung, die man in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg in Deutschland beobachten konnte, gab es auch in den anderen Staaten. Dies war sogar noch nach Kriegsende zu spüren. Männer, die aus gesundheitlichen Gründen nicht in den Krieg ziehen konnten, sehen sich als minderwertig an. Frauen, die sich nicht beteiligen dürften, sind noch immer brüskiert darüber und versuchen, ihre Wut zu kompensieren, indem sie Veteranen helfen. Und Jugendliche, die zu jung waren, saugen jede Geschichte in sich auf und sehen alles als ein großes Abenteuer an.

Tristan Sadler ging mit siebzehn Jahren zur Armee und kämpfte mit seinen Kameraden in Frankreich. Er hat viel Leid gesehen und am eigenen Leib gespürt. Für Menschen, die dem Krieg nachtrauern, hat er kein Verständnis. Er würde sich glücklich schätzen, wenn er die Zeit zurückdrehen und seine eigene Teilnahme, und vor allen Dingen bestimmte Taten, rückgängig machen könnte.
In den schrecklichen Tagen des Krieges stand ihm einige Zeit ein guter Freund namens Will zur Seite. Dieser schrieb häufig Briefe an seine Schwester und erhielt auch umfangreiche Antworten. Leider ist er auf "unrühmliche" Art umgekommen. Dieses Ereignis verfolgt Tristan jede Minute des Tages und er hofft, dass sich dieses Gefühl ändert, wenn er Wills Schwester die gesammelten Briefe, die sie an ihren Bruder schrieb, zukommen lässt. Er fährt nach Norwich um das Päckchen persönlich zu übergeben. Doch mit diesem Treffen, und den Erzählungen und Fragen der jungen Frau, kehren Erinnerungen und Gefühle zurück, die Tristan aufwühlen und ihn auffordern sich seiner Vergangenheit und seiner eigenen Schuld zu stellen.

Sprache, Stil,...
John Boyne ist den meisten Lesern wahrscheinlich durch sein kleines Buch "Der Junge im gestreiften Pyjama" bekannt. Über diese Geschichte gibt es viele Diskussionen, bei denen es hauptsächlich um die Darstellung von historischen Ereignissen geht. In seinem Buch "Der Schiffsjunge" ging er noch weiter in die Vergangenheit zurück und thematisierte die Ereignisse auf der Bounty. Aus meiner Sicht lag ein riesiger Entwicklungsprung zwischen diesen beiden Büchern. Doch was uns Boyne jetzt anbietet, ist noch eine Stufe besser.
Die Geschichte von Tristan Sadler ist spannend, realistisch und auch traurig. Sie orientiert sich an historischen Gegebenheiten, die den meisten Menschen nicht bekannt sind. Gleichzeitig können alle Ereignisse ebenso auf andere Kriege übertragen werden. Boyne schafft es den Leser immer wieder zum Nachdenken anzuregen und dafür zu sorgen, dass man die eigenen Gefühle und sogar die eigene Position reflektieren muss. Der jungen Tristan könnte genauso ein junger Soldat im Kosovo oder Afghanistan sein. Seine Gedanken, die aus bestimmten Weltvorstellungen resultieren, die Erlebnisse, die er während seiner Militärzeit macht und seine Entwicklung sind universell.
Damit diese Geschichte aber eine Reflexion beim Leser auslöst, stellt der Autor dem Protagonisten eine Familie und Freunde zur Seite, die ihn immer wieder anstupsen und selbst zum Nachdenken bringen. Und so entwickelt man sich praktisch während des Lesens mit Tristan Sadler. Dies passiert nicht durch Zwang, sondern durch Spannung. Boyne hat einen Lebenslauf geschrieben, der immer wieder Wendungen enthält, die völlig nachvollziehbar und realistisch sind. Gleichzeitig erzeugen sie aber einen Spannungsbogen, der dazu führt, dass man das Buch nicht mehr aus der Hand legen möchte. Zudem entwickelt er zwei verschiedene Erzählstränge, die auf ein gemeinsames zeitliches Ziel zusteuern. Sicherlich kann man anbringen, dass diesen handkniff jeder zweite Autor anwendet. Aber Boyne wäre nicht Boyne und hätte keine Entwicklung durchgemacht, wenn er an diesem Punkt aufhören würde. Nein, er fügt nach und nach weitere Handlungsstränge ein, die ein wunderbares Zeit- und Handlungsgeflecht ergeben.
Sprachlich schafft er es, dieses Geflecht mit sanften Worten zu unterfüttern, die an wenigen Stellen von einer derben Sprache unterstützt werden. An diesen Punkten soll nichts beschönigt werden, sondern die nackte Wahrheit und Dramatik der Situation sollen aufgezeigt werden. Obwohl sich das Werk vornehmlich an Jugendliche richtet, ist die Wortwahl nicht zu lax. Aus meiner Sicht hat er ein gutes Mittelmaß zwischen anspruchsvoller, sehr bildlicher und zeitgemäßer Sprache gefunden. Hier muss ich auch ein ausdrückliches Lob an den Übersetzer Werner Löcher-Lawrence aussprechen.

Fazit: Ein tolles Jugendbuch, das unbedingt zu empfehlen ist, weil es rundum überzeugt. Für mich ein literarischer Höhepunkt im Februar!


336 Seiten 
mit Schutzumschlag
EUR 19,95 · SFR 28,90 · EUA 20,60 3-7160-2664-6
ISBN-13: 978-3-7160-2664-9

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